Shavasana, die Totenstellung – Ein Gastbeitrag von Claudia Klinger

Claudia Klinger lebt in Berlin, ist selbständige WebWorkerin und leidenschaftliche Bloggerin – z.B. im Digital Diary – Vom Sinn des Lebens zum Buchstabenglück und im Wilden Gartenblog.

Shavasana, die Totenstellung

Alltags-BluemchenEine Grund legende Übung im Yoga ist Shavasana, die „Totenstellung“: Man liegt entspannt auf dem Rücken und spürt den Kontakt zum Boden mit allen Körperteilen, die die Erde berühren. Kopf und Nacken liegen gerade, der Kopf soll nicht nach oben/hinten geneigt sein, was bei Anfängern aufgrund eingefahrener Bewegungsmuster oft der Fall ist.

shavasanaUm zu entspannen, geht man im Geiste den ganzen Körper durch und beobachtet, was es im jeweiligen Körperteil zu spüren gibt. Ganz automatisch, bzw. wie von selbst werden so vorhandene Anspannungen losgelassen.

Shavasana wird von vielen Yoga-Lehrenden als Entspannungsübung zu Beginn einer Stunde oder als meditativer Ausklang nach einer fordernden Übungsreihe vermittelt. Statt „Totenstellung“ sagt man häufig „Rückenentspannungslage“, „Tiefenentspannung“ oder übersetzt es gleich gar nicht. Es könnten ja sonst unharmonische Gedanken bei den Schülern aufkommen, die der Entspannung entgegen stehen.

Mit dieser Einstellung wird Yoga verflacht und oft auch die Intention der Schüler/innen missverstanden: viele wollen MEHR als nur Gesundheit und eine ausgeglichene Psyche, wenn sie sich dem Yoga-Weg zuwenden. Geht es nicht letztlich auch darum, angesichts des eigenen Sterbens einen ruhigen Geist und innere Gelassenheit zu bewahren?

Die Atemwende beobachten

Die Herkunft der Bezeichnung „Totenstellung“ erscheint banal: Ein Toter liegt eben normalerweise so da, also nannte man die Übung so, genau wie manch andere Asana nach Tieren benannt ist, weil sie typische Körperhaltungen des jeweiligen Tieres nachempfindet (z.B. die „Katze“). Gar nicht mehr banal, sondern sehr spannend wird Shavasana erst dann, wenn ein Lehrer es versteht, nicht nur Entspannung in Körper und Psyche zu vermitteln, sondern auch den Geist mit einer Frage, mit einer echten „Forschungsaufgabe“ einzubeziehen.

bauchMein Yogalehrer Hans-Peter Hempel, bei dem ich über zehn Jahre übte und lernte, richtete unsere Aufmerksamkeit nach einigen Minuten des Liegens auf den Atem: Wir sollten das Heben und Senken der Bauchdecke beobachten, den Atem einfach geschehen lassen, und dann speziell auf die Atemwende achten, wenn man ganz ausgeatmet hat. WIE und wann setzt eigentlich das Einatmen ein??

„Schaut hin! Ihr werdet interessante Entdeckungen machen.“ Mehr sagte er nicht, sondern überließ uns der Bredouille, in die jeder gerät, der die Aufgabe ernst nimmt und wirklich hin schaut.

Die Yoga-Vermittlerin in mir würde an dieser Stelle mit dem Artikel aufhören, denn wenn auch nur einer es aus erwachter Neugier ernsthaft versucht, wäre mehr erreicht als wenn 100 Leser/innen mit einem Blog-Posting zufrieden sind. Nun, ich bin nicht Yoga-Lehrerin geworden, also schreibe ich weiter – auf die Gefahr hin, dass den meisten die Beschreibung reicht, weil sie meinen, es genüge, etwas vom Kopf her zu verstehen.

atmenAlsdenn: Das untere Ende des Atems beobachtend gerät man ins Schwimmen, weil nicht recht unterscheidbar ist, ob wir das Einatmen MACHEN oder geschehen lassen. Es erscheint zunächst auf seltsame Weise unmöglich, es geschehen zu lassen: hinsehen IST schon gleich aktiv einatmen bzw. aktiv immer weiter ausatmen (und die zunehmende Atemnot in der Lücke aushalten, „bis es nicht mehr geht“, bzw. bis man erkennt: DAS, was ich da gerade mache, ist gewiss kein „geschehen lassen“!)

Auf einmal wird so die selbstverständlichste und eigendynamischste Lebensäußerung, das Atmen, ausgesprochen problematisch. Was heißt hier „geschehen lassen“? Wie geht das? WER macht dieses Einatmen, wann ist der richtige Zeitpunkt, und wie halte ich mich aus dem Geschehen heraus? Geht das überhaupt? Woran mache ich eigentlich fest, ob ICH HANDLE oder ob „es geschieht“?? Was bedeutet da eigentlich „ich“? Wer/was ist das?

So führt die recht schlicht wirkende Übung Shavasana durch eigenes Erleben und Experimentieren zur großen Frage „Wer bin ich?“. Dabei geht es nicht darum, schon gleich eine bestimmte Antwort zu finden: der Weg zur Antwort beginnt mit dem Erleben der Frage, mit dem „fraglich werden“ des bis dahin Selbstverständlichen.

In der Totenstellung geht es um Sein oder Nicht-Sein des „Ich“, bzw. der Vorstellung, die wir von diesem „Ich“ haben. Manche spüren den Abgrund, der sich da auftut, manche lässt die Frage nicht mehr los.

Wie gut, dabei so wohlig entspannt auf der Erde zu liegen und zu spüren, wie sicher sie uns – trotz alledem – trägt.

Abb.: Yoga Exercicios; dashek / stockexpert.com; apomares / iStockphoto.com

Danke Claudia für den Beitrag.

6 replies on “Shavasana, die Totenstellung – Ein Gastbeitrag von Claudia Klinger”

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  5. danke für diesen wertvollen beitrag, auch als yoga kennerin las ichs gern:-)

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