Spirituelles Tagebuch – ab wann brauchbar?
Vor einigen Tagen hat Sukadev von Yoga-Vidya unter dem Titel „Spirituelles Tagebuch“ einen Vorschlag für eine Anleitung zu einer yogische Selbstbetrachtung vorgestellt. Es werden eine Reihe von Dingen abgefragt wie:
- Wann aufgestanden
- Wie viele Stunden geschlafen
- Wie lange meditiert
- Wie lange Kirtan (Mantras gesungen)
- Wie lange Pranayama
- Wie lange Asanas
- Wie lange spirituelle Bücher gelesen
- Wie lange Satsang [= ein Treffen mit einem spirituellen Lehrer]
- Wie lange selbstloser Dienst
- Wie lange Mouna (Schweigen)
- Fastentage
- Wieviel gespendet
- Welche gute Eigenschaft entwickle ich
- Welche gute Gewohnheit entwickle ich
- Woran muß ich besonders arbeiten
- Was habe ich heute gelernt
- Vorsätze für morgen
- Sonstiges
Zum Wochenplan gehört eine Formulierung eines Zieles, welches man in diesen Punkten erreichen will und auch, in Form einer Summe, so etwas wie eine Erfolgskontrolle.
Seitdem ich die Liste gesehen habe, geht sie mir unangenehm nach. Die Liste richtet sich an „Aspiranten“, also an Menschen, die tiefer in ein spirituelles Leben einsteigen wollen. Sie ist damit eher nicht für den ‚allgemeinen‘ Gebrauch gedacht. Trozdem berührt sie mich. Sie steht da wie ein Berg, den ich so nicht hochsteigen möchte.
Wenn ich diese Liste lese, sehe ich nur Anforderungen. Wie lange, wie viel, wie gut war ich. War ich ein braves Kind? War ich ein guter Yogi?
Yogische Praxis bedeutet immer auch ein sich ständiges Selbstbeobachten. Ganz ohne Zweifel. Aber ist Yoga wirklich vom Wesen her so eine Art innerer Schwanzvergleich? Ich habe in meiner Jugend zwei Jahre in einem christlichen Kloster gelebt. Eine so detaillierte Liste zur Selbstkontrolle habe ich auch dort nicht erlebt. Yoga fragt – im Gegensatz zur christlichen Lehre – auch nicht nach Schuld. Bei dieser Liste frage ich mich unwillkürlich, ob nicht darüber (und deren objektiven Unerfüllbarkeit!) die Schuld- und Sündenfrage quasi durch die Hintertür in den Yoga eingeführt wird?
Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen. Mit ein paar Ausnahmen sind diese Punkte zur Selbstbeobachtung auch in meinen Augen durchaus sinnvoll. Es ist die Zusammenstellung, die Menge, das alles auf einen Schlag machen wollen, dass in mir den innerne Widerstand aufkommen läßt. Was passiert, wenn ich in ganz vielen der Punkte ‚gute‘ Werte habe? Bin ich dann besser geworden? Und, noch viel schlimmer, was ist, wenn ich den Zielen nicht gerecht werde. Bin ich dann schlecht?
Selbst wenn ich mich noch einmal in ein Kloster / Ashram begeben würde um mich ganz yogischen Inhalten zu widmen. Diese Liste würde dazu führen, dass ich
das Weite suchen würde. Im ’normalen‘ Leben ist sie in meinen Augen unbrauchbar.
Auch im yogischen Leben kann man nicht alles auf einmal machen. Ohne Schwerpunkte – im Moment übe ich vor allem Körperübungen (asana), zu einer anderen Zeit vielleicht die Atembeherrschung (pranayama) oder Meditation – wird wohl kaum jemand üben. Solche Schwerpunkte haben zwar immer Auswirkungen auf andere Bereiche denn im Yoga steht nie ein Punkt alleine. Übe ich viel Pranayama wird sich die Qualität meiner Meditation verbessern, verbessert sich meine Meditation, ändert sich mein Schlafbedürfnis … Solche Ketten lassen sich überall finden. Auch wenn ich Schwerpunkte setze, arbeite ich doch nie an einer Baustelle alleine.
Qualität? … Das ist es, was mich vor allem stört. Die Liste fragt nicht die Qualität ab. Es gut um Menge und Pflichterfüllung, nicht um liebevolles Begleiten, wohlwollende Selbstbegleitung oder selbstunterstützende Entwicklung.
Yoga als Lebensweg ist durchaus anstrengend und weit entfernt von etwas Meditationsgymnastik. Auch wohlwollende Selbstbegleitung kann im Zweifel auch schmerzhafte Anstrengung bedeuten. Diese Liste begleitet diesen Prozess allerdings nicht annähernd.
Also kein spirituelles Tagebuch? Doch! Es kann sehr nützlich sein und den Prozess der positiven Selbstbeobachtung unterstützen. Aber es muss zu mir passen. Es muß meinen Zielen und meiner Praxis angepasst sein. Und vor allem muss es die Qualität meiner Übungen festhalten. Was habe ich empfunden? Wo waren meine Widerstände? Was fiel mir leicht? Das sind alles keine Fragen von Quantitäten. Yoga bringt neue Qualitäten in unser Leben. Dafür sollte ein Tagebuch den Blick schärfen, nicht für die Länge unserer Meditationen.
fotos: Stephan Momberg; Stihl024; Bernhard Aichinger / pixelio.de