Selbsthilfe – ein offizieller Pfeiler im Gesundheitswesen?
Das Gesundheits-Weblog hat eine Meldung aufgegriffen, nach der der Rita-Süssmuth-Preis die Arbeit von Osteoporose-Selbsthilfegruppen würdigt. Das finde ich erstmal sinnvoll.
Was mich aber stutzen lässt ist die Tatsache, dass Selbsthilfegruppen allgemein als ein wichtiger Pfeiler im Gesundheitswesen angesehen werden. Eine Auffassung, die liebend gerne gerade von offizieller Seite immer wieder in den gesundheitspolitischen Debatten wiedergegeben wird. Selbsthilfe wird also immer mehr als offizieller Teil des Gesundheitssystem gesehen und soll / muss Leistungen für Betroffene erbringen. Klar – natürlich kostenlos.
Obwohl ich im Rahmen meiner Arbeit in der Selbsthilfe für die Deutsche Morbus Crohn / Colitis ulcerosa Vereinigung (DCCV e.V) immer wieder und einen nicht unbeträchtlichen Teil meiner Arbeitszeit widme, ärgern mich solche Aussagen. Sicher, ein bundesweit tätiger Verband übernimmt in einem erheblichen Maße verantwortliche Arbeit. Politische Vertretung, professionelle und im Falle der eigenen Organisation pharmaunabhängige Information und Beratung aus Betroffenensicht, sogar zunehmend betroffeneninitiierte Forschung sind solche übergeordneten Aufgaben die übernommen werden. Aber wesentliche Arbeit der Selbsthilfe wird nicht in irgendwelchen Bundesverbänden geleistet, sondern von vielen kleinen Selbsthilfegruppen vor Ort.
In meinem eigenen „Dunstkreis“ sind es nicht weniger als 300 Selbsthilfegruppen, die bundesweit tätig sind, vermutlich sogar deutlich mehr. In einer Stadt wie Köln gibt es wohl über 1.000 Selbsthilfegruppen für alle möglichen Themen. Von gut organisierten Stadtteil-Gruppen großer Organisationen wie die Diabetiker oder Anonymen Alkoholikern bis zu Angstgruppen, die mit wenigen Menschen von Treffen zu Treffen um den Fortbestand der Gruppe bangen müssen. Es sind diese kleinen Gruppen vor Ort die zwar vieles für Betroffenen leisten, die aber nicht offiziellen Erwartungen wie „Pfeiler des Gesundheitswesens“ gerecht werden können. Es sind oft Initiativen von einzelnen Menschen. Betroffene, die es neben ihrer eigenen Betroffenheit schaffen, noch an andere zu denken.
In den Gruppen, oft nur wenige Menschen, in Kneipen oder Cafés, manchmal in Räumen von Gemeinden, Kommunen oder ähnliches, wird viel und gute Arbeit gemacht. Menschen können sich über ihre Probleme austauschen und sie so bewältigen. Aber von Pfeiler im Gesundheitswesen sind solche Gruppen weit entfernt. Für relativ seltene Probleme gibt es lange nicht überall Gruppen. Die Pfeiler wären also weit – zu weit – von einander entfernt und so (um im Bild zu bleiben) nicht besonders tragfähig. Ein System, was alleine auf solche Eigeninitiativen der Gruppen vor Ort setzt, ist zutiefst ungerecht.
Sicher, die größeren Verbände der Gesundheitsselbsthilfe schaffen einen gewissen Ausgleich. Hier wird durchaus ernsthaft versucht überregional wirksame persönliche Hilfe und politische Vertretung auf die Beine zu bringen. Aber „die“ Selbsthilfe in die allgemeine Pflicht zu nehmen, wird der Sache nicht gerecht, weil es „die“ Selbsthilfe nicht (überall) gibt.
fotos: Melanie Vollmert / pixelio.de
Selbsthilfe ist ja ein Erfahrungsaustausch und wenn jemand eigene Erfahrungen auf einem Gebiet hat, ist er oder sie für mich kompetenter, als wenn sich irgendwer etwas angelesen hat oder eben sein Wissen von den Menschen hat, die Erfahrungen haben.
Bei der Alkoholsucht ist es für mich so, das ein trockener Alkoholiker weitaus kompetenter ist, als jeder Psychologe oder Therapeut. Wer selbst die Sucht erlebt hat und sich ein Leben ohne Suchtmittel aufbauen konnte, weiß es aus eiger Erfahrungen und hat somit praktische Erfahrungen und nicht nur theoretisches Wissen.
Hallo Ottmar, das brauchst Du nicht zu fürchten. Du hast nämlich recht.
Angenervt bin ich nicht, weil Selbsthilfe eine wertvolle Ergänzung ist, sondern weil sie von offizieller Seite ungefragt vereinnahmt wird und in bestimmten Bereichen auch deutlich überfordert wird.
Es ist im Zweifel nicht der Einzelne, der dabei über- oder unterfordert wird, sondern es wird vorausgesetzt, dass Selbsthilfe als Gesamtheit eine voll funktionsfähige Lobby ist und auch so arbeitet. Und das funktioniert so nicht.
Viele Grüße, Bernd.
Ich fürchte du hast Unrecht. Selbsthilfe wird immer der Grundpfeiler sein wird, denn der Staat wird und kann nicht alles reglementieren und vorgeben. Und ich würde das auch nicht wollen. Klar, damit kommen sie nicht über eine Form der Amateurhaftigkeit hinaus, aber möchtest du immer über dich bestimmen lassen. Ich hol mir einen großen Teil meiner Information aus dem Netz, auch wenn ich weiß, dass vieles recht dubios ist. Es ist immer ein Gleichgewicht zwischen eigenen Aktionen und staatlichem Aktionismus zu suchen. Ich trau da dem Einzelnen trotzdem was zu. Deswegen finde ich das hier schreiben auch wichtig. Das ist doch eine Form der Selbsthilfe. Die professionelle Schiene wäre hier der Journalismus.
~ottmar~